"Wir wollten einen Stein ins Rollen bringen"
Elfriede Brüning leitet seit fast 20 Jahren die Zentrale Beratungsstelle für Wohnungslose.Walter Wetzler
"Man muss nicht verrückt sein, um hier zu arbeiten. Aber es hilft ungemein!". Eine Postkarte mit diesem Spruch hängt über dem aufgeräumten und gut strukturierten Schreibtisch von Elfriede Brüning. Seit fast zwanzig Jahren ist Brüning (56) die Leiterin der Zentralen Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot. Eine ganz besondere Beratungsstelle, die von den meisten nur "die Levetzowstraße" genannt wird. Die Zentrale Beratungsstelle in der Levetzowstraße 12a befindet sich im Berliner Bezirk Tiergarten nahe dem Hansaplatz. Vom U-Bahnhof Hansaplatz ist es nur noch eine Station zum Bahnhof Zoo - und hier beginnt die Geschichte der Beratungsstelle, die es nunmehr 40 Jahre gibt.
So fing alles an: im Jahr 1974 legte das Abgeordnetenhaus von Berlin einen "Obdachlosenplan" vor. Dieser beschrieb notwendige "Maßnahmen zur Vermeidung und Reduzierung der Obdachlosigkeit". Der Senat sprach 1974 von 3800 Obdachlosen in Berlin. Viele hielten sich um den Bahnhof Zoologischer Garten auf, der damals vor der Wende der zentrale Hauptbahnhof West-Berlins war. Dort und im angrenzenden Tiergarten fühlten sich viele vom Anblick und der Konzentration der "nichtsesshaften Personen" gestört. Außerdem wollte man helfen, um die Obdachlosen wieder einzugliedern und ihnen eine bessere Lebensperspektive zu verschaffen. Damals wie heute gab es zu wenige günstige Wohnungen. Gemeinsam mit Caritas und Diakonie schmiedete der Senat Konzepte, die Abhilfe schaffen sollten. Es dauerte allerdings noch fünf Jahre, bis die Überlegungen in die Praxis umgesetzt wurden. 1979 stellten Caritas und Diakonie schließlich vier Sozialarbeiterinnen ein, die zunächst ohne irgendwelche Räumlichkeiten ihre Arbeit rund um den Bahnhof Zoo aufnahmen. Streetwork würde man heute dazu sagen. Nach einigen Monaten wurde ein Bauwagen zum provisorischen Stützpunkt, dann folgte schließlich ein Container - ohne Strom und Wasser. Die Beratungsstelle Bahnhof Zoo war geboren, aus der schließlich die Zentrale Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot hervorging. 1980 konnten dann richtige Büroräume in der nahe gelegenen Levetzowstraße bezogen werden. Dass hier der Nucleus der Wohnungslosenhilfe in Berlin entstehen sollte, ahnte noch niemand.
Vor der Gründung der Levetzowstraße gab es kaum Anlaufpunkte für Obdachlose. Die Diakonie hatte in Berlin-Steglitz eine Beratungsstelle für alleinstehende Männer, zu der vereinzelt auch Wohnungslose kamen. Im Foyer der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche kümmerte sich Lizzy Kühl um Menschen, die nicht wussten wohin. Weitere evangelische Gemeinden boten in einzelnen Bezirken Hilfen an. Insgesamt war das aber für eine Stadt wie Berlin nicht genug. Was fehlte, war eine professionelle Beratung und die Entwicklung einer Hilfestruktur für die gesamte Stadt, die nun Aufgabe der Zentralen Beratungsstelle werden sollte.
Caritasdirektorin Ulrike Kostka auf dem Jubiläumsfest Walter Wetzler
Die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter der Levetzowstraße gingen die Thematik auf ihre Weise an. Getragen vom Geist der 68er-Generation wurde die Beratungsstelle basisdemokratisch organisiert. Aus dem Team heraus wurden wechselnde "Delegierte" benannt, die wichtige Fragen mit den beiden kirchlichen Trägern Caritas und Diakonie besprachen und diskutierten. "Wenn du basisdemokratisch arbeitest, kannst du dich nicht wegducken - so habe ich von den Gründungspersönlichkeiten der Beratungsstelle gelernt, von Anfang an Verantwortung zu übernehmen", erläutert Elfriede Brüning ihre Erfahrung in der Levetzowstraße. Sie kam 1987 als Praktikantin ins Team. Damals studierte sie noch Sozialpädagogik in Freiburg. "Ich kam rein und war von der leidenschaftlichen Arbeit sofort begeistert", so Brüning. "Der Enthusiasmus hat mich angesteckt. Hier wurde der ganze Mensch gesehen, nicht nur ein kleiner Ausschnitt. Dass ich dazu beitragen kann, dass es denjenigen, die am untersten Rand der Gesellschaft stehen, besser geht, ist bis zum heutigen Tag meine Motivation", erklärt die engagierte Sozialpädagogin. So baute das Team nach und nach Hilfen auf, die dringend gebraucht wurden. Die Obdachlosen bekamen etwas zu essen, erhielten Kleidung, Schließfächer für ihre Habseligkeiten, konnten sich duschen, wurden ärztlich versorgt und vor allem natürlich beraten. Im Mittelpunkt der Anstrengungen stand immer, Wohnungslosen ein reguläres Leben zu ermöglichen. Die Notversorgung sollte nur übergangsweise die Lebenssituation stabilisieren. Deshalb hatte man 22 Wohnungen für Menschen angemietet, die niemals eine Chance gehabt hätten, eine eigene Wohnung zu finden.
Auch Herbert landete 2012 auf der Straße, nachdem er aus Bayreuth nach Berlin gekommen war. Walter Wetzler
Gemeinsam mit den Betroffenen wurden aber auch Protestaktionen geplant und durchgeführt. Als das BVG-Sozialticket eingestellt werden sollte, gab es eine Vollversammlung - gemeinsam mit Klienten. Dann machte man sich auf, um in der U-Bahn zu protestieren. Man stieg am Schlesischen Tor mit eingerollten Transparenten ein und zeigte dann in den U-Bahnwagen, dass man nicht gewillt war, die Kürzung hinzunehmen. Die Öffentlichkeit und die Presse sollten mobilisiert werden. 1981 wurde die Beratungsstelle selbst durch Wohnungslose besetzt. Sie forderten das Recht auf eine Wohnung für alle. "Diese Forderung haben wir geteilt. Damals lief alles etwas revolutionärer ab. Wir wollten einen Stein ins Rollen bringen" schmunzelt Brüning. Das ist "der Levetzowstraße" gelungen. Heute gibt es ein recht gutes Hilfesystem für Wohnungslose in Berlin. Ärztliche Versorgung, Kleiderkammern, Suppenküchen, Tages- und Nachtcafés sind entstanden. Genauso wie ganzjährig geöffnete Notübernachtungen, betreutes Wohnen und weitere Beratungsstellen.
Die Kältehilfe bietet nicht nur ein Bett im Warmen, sondern auch GemeinschaftCatharina Tews
Auch die Berliner Kältehilfe, die 2019 zum dreißigsten Male startet, um Obdachlose in der Winterzeit vor dem Erfrieren zu bewahren, wurde in der Levetzowstraße geboren. In einer eiskalten Winternacht brachten es die Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter nicht übers Herz, ihre Klienten auf die Straße zu schicken. Sie räumten einfach Tische und Stühle weg, besorgten Matten und Schlafsäcke und ließen die Obdachlosen in der Beratungsstelle übernachten. Dass die Berliner Kältehilfe dann ein solcher Erfolg wurde, war nur durch viele engagierte Studentinnen und Studenten der Berliner Fachhochschulen für Sozialarbeit und durch zahlreiche Ehrenamtliche aus evangelischen und katholischen Kirchengemeinden möglich. Sie stellten bald darauf Winter für Winter Gemeindesäle und Räumlichkeiten zur Übernachtung und versorgten die Obdachlosen. So wie in der Levetzowstraße selbst ging hier ein ökumenischer Keim auf, dessen Früchte sich immer weiter ausbreiteten.
Konzipieren und anstoßen, so dass ein selbst funktionierendes und tragfähiges Angebot entsteht, ist die Devise, für die die Zentrale Beratungsstelle für Menschen in Wohnungsnot steht. Seit 1997 ist die Berliner Stadtmission neben dem Caritasverband für das Erzbistum Berlin Träger der Beratungsstelle. Zehn Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, zwei Verwaltungskräfte, vier Praktikantinnen und Praktikanten und vier bis fünf Ehrenamtliche bilden das Team. Im Laufe der Jahre ging es auf und ab. Es gab Schwankungen in der Besetzung. "Finanzierungsprobleme haben uns oft sehr stark unter Druck gesetzt. So mussten in manchen Jahren Stellen eingespart werden, weil der Berliner Haushalt nicht genug hergegeben hat. Die Arbeit wurde mehr - aber wir mussten abspecken. So haben wir uns immer stärker auf die Beratung konzentriert, vieles wurde ausgelagert. Dabei sind leider auch wichtige Angebote auf der Strecke geblieben", erklärt Brüning bedauernd.
Auf der Jubiläumsfeier wurden die 40 Jahre Levetzowstraße ausgelassen und kreativ gefeiert.Walter Wetzler
Heute werden jährlich etwa 3300 Wohnungslose beraten. Manche entsprechen dem Klischeebild eines Obdachlosen, der Drogen und Alkohol konsumiert oder psychische Probleme hat und nicht gut riecht. Die meisten suchen aber einfach nur eine Wohnung. Die Wohnungsnot hat inzwischen auch die Mittelschicht erreicht. So kommen Leute, die in Berlin eine Arbeit gefunden haben, aber eben kein Zuhause. Andere wissen einfach nicht, wie sie Anträge stellen sollen, an welches Amt sie sich wenden müssen oder wie sie Unterstützung bekommen können. Es kommen zunehmend Familien. "Wir beraten, begleiten und sortieren auch oft Problemlagen. Etwas Belastendendes erzählen können und dann eins nach dem anderen angehen, damit die Leute nicht alles auf einmal in Nacken haben, das bringt viele schon einen großen Schritt weiter", so Brüning. Im Schnitt werden jährlich zwischen 5000 und 5500 persönliche Beratungen durchgeführt. Das Verhältnis von Deutschen und Migranten ist etwa 50:50. Die Hälfte der fünfzig Prozent Migranten wiederum kommt aus der Europäischen Union. "Bei uns gibt es eine bunte Mischung, hier bildet sich die gesamte Stadt ab", erklärt die Leiterin der Beratungsstelle.
Ein ganz wichtiger Service, den die Levetzowstraße bietet, ist die Möglichkeit, hier eine Postadresse zu bekommen. Ohne Postadresse keine Bankverbindung und somit keine Möglichkeit, Anträge zu stellen. 2200 Postadressen werden verwaltet. Ein enormer Aufwand, der sich lohnt. Jeden Tag bringt die Post um die 600 Briefe, die sortiert werden müssen. Wenn die Leute ihre Post abholen, gibt es regelmäßig eine lange Warteschlage bis ins Treppenhaus.
Die Levetzowstraße ist im Verlauf der Jahre mehr und mehr zu einem Hilfezentrum geworden. Sie bietet heute eine breite Palette an sozialen Hilfen für Alleinstehende und Familien in Wohnungsnotfällen an. Die Beratung erfolgt in elf Sprachen, es gibt an fünf Wochentagen offene Sprechstunden, mobile und aufsuchende Arbeit und Krisenintervention. Diese Vielfalt konnte durch die intensive Zusammenarbeit mit der Migrationsberatung für erwachsene Zuwanderer, mit MOBI Berlin - der mobilen Beratung für Zuwandernde aus Südosteuropa - und dem Caritas-Arztmobil zur medizinischen Versorgung von Wohnungslosen erreicht werden. Alle diese Angebote sind inzwischen auch in der Levetzowstraße 12a angesiedelt.
Etwa 3300 Wohnungslose werden pro Jahr in "der Levetzowstraße" beraten - auch das wurde auf dem Jubiläumsfest gefeiert.Walter Wetzler
In 40 Jahren ist in der Wohnungslosenhilfe in Berlin einiges geschehen. "Es gab aber auch einen Wandel in der Sozialarbeit, der mich etwas nachdenklich macht. Qualitätsmanagement, Leistungsbeschreibungen, Evaluation, Sozialmanagement, Datenschutz - alles schön und gut. Manchmal scheint aber dabei der Blick auf den Menschen verloren zu gehen. Ich habe soziale Arbeit studiert, um dem Einzelnen zu helfen, aber auch um eine Anwältin für die Veränderung gesellschaftlicher Umstände zu sein, die Menschen benachteiligen", sagt Elfriede Brüning abschließend. Dafür steht auch die Levetzowstraße.
Text: Thomas Gleißner